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Der Mann ohne Namen

«Wieder einmal…» ist man geneigt zu sagen. Der Schweizer Presserat hat sich letzte Woche zum Persönlichkeitsschutz im Journalismus geäussert. Diesmal gings um den Vierfachmörder von Rupperswil. Nach Lektüre der Stellungnahme stellt sich nicht nur die Frage, was man darf, sondern was relevant ist.

Es ist eines der ganz grossen Themen des Journalismus’ und regelmässig setzen sich der Berufsstand, seine Aufsichtsorgane (Presserat, UBI usw.), aber auch die Rechtsprechung damit auseinander: der Persönlichkeitsschutz. Vor einigen Tagen hat der Presserat eine Stellungnahme publiziert, die bei mir ein «Ja, aber…» zurücklässt – oder vielleicht ein «Nein, obwohl…». Worum geht’s (um eine andere Koryphäe des grenzwertigen Journalismus’ zu zitieren)?

Der sogenannte Vierfachmord von Rupperswil ist oder war eines der schrecklichsten Gewaltverbrechen unseres heilen, idyllischen Landes. Es muss in einem Atemzug mit Werner Ferrari, dem Mord von Seewen und dem Amoklauf in Zug genannt werden – um nur die drei Beispiele zu nennen, die mir in oberflächlicher Betrachtung grad spontan einfallen. «Blick» und «Blick online» haben in der Berichterstattung über den Fall und den Gerichtsprozess keine Mühen gescheut, diesen Mord in allen Details auszubreiten. Die dabei eingesetzten, oft zweifelhaften Methoden wurden immer mal wieder öffentlich diskutiert. Heinz de Specht haben sie in einem Song angeprangert (zu sehen hier). Unter anderem haben die beiden Medien aus dem Haus Ringier den Täter gut erkennbar im Bild gezeigt, ihn beim Vornamen und Initial des Nachnamens genannt und etliche Details über sein Privatleben und seine Familie ausgebreitet.

Zu einem gewissen Zeitpunkt des Berufungsprozesses befand der Blick dann, er nenne den Täter nun auch bei vollem Nachnamen. Er erklärte dies im Wesentlichen mit zwei Argumenten: Zum einen liess er den nicht um Publizität verlegenen Anwalt Valentin Landmann darüber referieren, dass der Täter mit der Scheusslichkeit seiner Tat – die in keiner Weise in Frage gestellt werden soll! – sein Recht auf Persönlichkeitsschutz eh verwirkt habe. Zum anderen habe der Umstand, dass die Pflichtverteidigerin des Täters in einer öffentlichen Stellungnahme dessen Nachnamen genannt hat, dieser Praxis Tür und Tor geöffnet haben. Der Presserat sieht das etwas anders und heisst zwei eingegangene Beschwerden in diesem Punkt gut: Zum einen sei die Einschätzung von Valentin Landmann eine Einzelmeinung. Zum anderen sei die Namensnennung der Verteidigerin offensichtlich ein Versehen gewesen. (Die gesamte Stellungnahme und die m.E. wichtigsten Punkte daraus können hier nachgelesen werden.)

Der Fall bewegt zweifellos – insbesondere unter dem Aspekt, wie weit Medien in der Berichterstattung gehen dürfen. Das haben wir auch in der Programmkommission der SRG Aargau Solothurn, die ich präsidiere, näher angeschaut (einen Bericht dazu gibt’s hier). In (s)einem persönlichen Blog hat sich auch Regi-Redaktionsleiter Maurice Velati Gedanken zum Presserats-Urteil gemacht (hier nachzulesen). Ich stelle mir, ebenso wie Velati, weniger die Frage, ob denn nun die Nachnamens-Nennung O.K. war und ob die Praktiken des «Blick» ethisch vertretbar sind (dazu ganz am Schluss noch eine Bemerkung). Man sollte sich die Frage stellen, was die Namensnennung überhaupt bringt – ausser einer fragwürdigen Neugierde, dem Voyeurismus des Publikums, nachzugeben. Die Persönlichkeit wird vom Schweizer Recht geschützt und ein Grundsatz besagt, dass sie mit dem Tod endet bzw. – im Umkehrschluss – vor diesem klar geschützt bleibt. Im Bedarfsfall argumentieren Medien jeweils mit der Haltung, es bestehe ein öffentliches Interesse, dass Details über die betreffende Persönlichkeit bekanntgemacht werden. Die Verantwortung, die Medien zukommt, nämlich zu entscheiden, was die Öffentlichkeit wissen muss, wird auf diese Öffentlichkeit übertragen: Medien liefern der Öffentlichkeit, was sie wissen möchte – unabhängig davon, ob sie es wissen sollte, ob es relevant ist. Bereits vor zehn Jahren hat der deutsche Medienwissenschaftler und Publizistik-Professor Stephan Russ-Mohl eine Studie der Oxford University zitiert: Sie unterscheidet zwischen «the public interest» und «the public’s interest»: Nicht alles, was die Öffentlichkeit interessiert, ist auch von öffentlichem Interesse (s. https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/offentliches-interesse). «Als Entscheidungshilfe für Journalisten, um herauszufinden, ob sich eine Recherche im öffentlichen Interesse rechtfertigen lässt, empfehlen Whittle und Cooper schliesslich einen simplen ‹impact test›: Handelt es sich um Fragen, die sich potenziell auf das Leben einer Vielzahl von Menschen auswirken, statt nur lüsterne Neugier zu befriedigen?»

Oder drehen wir den Informationsspiess mal um: Was hilft es mir, dass ich weiss, dass der Täter von Rupperswil Thomas N. heisst? Finde ich die Tat mehr oder weniger abscheulich, weil dahinter ein Thomas steckt? Und im gleichen Zug stellt sich die Frage, ob es für mich wichtig ist, ob ich ein Interesse daran habe, zu wissen, wie Thomas N. aussieht. Mein bescheidenes Urteil: Nein, weder noch. Der Täter sitzt hinter Gittern und ist keine Gefahr (mehr). Ich muss mich und mein Umfeld nicht vor ihm schützen und muss nicht wissen, wie er identifiziert werden kann. (Ganz abgesehen davon, dass in einer demokratischen Staatsform der Schutz der Bevölkerung der Polizei zukommt und nicht jedem einzelnen. Das wäre ja dann Selbst- oder Lynchjustiz.) Die Kenntnis von Name und Aussehen macht für mich die Tat auch nicht greifbarer – im Gegensatz beispielsweise zum Wissen über den Umstand, dass der Täter im Fussballclub des einen Opfers Trainer war.

Insofern finde ich es schwierig, wenn der Presserat ausdrücklich lobt, dass die Medien es bei der Nennung von Vorname und Initial des Nachnamens belassen hätten und so die Privatsphäre von Täter und seinem Umfeld – insbesondere seiner unbescholtenen Familie – geschützt hätten. Was gibt es daran zu loben? Ich solchen Fällen – auch bei zuweilen skurril anonymisierten Fernsehinterviews von Personen, die vor Konsequenzen jener, über die sie sich äussern, geschützt werden müssten – geht mir jeweils folgender Gedanke durch den Kopf: Wer die Person kennt, erkennt sie auch so, aus dem Zusammenhang – egal ob anonymisiert oder nicht. Silhouette, Gesten, Stimme, Sprachgebrauch sind Kennzeichen genug. Und für jene, die sie nicht persönlich kennen, spielt es eh keine Rolle, wer dahintersteckt. Oder konkret: Thomas N. ist auch für jene, die ihn kennen, identifizierbar, wenn sein Nachname nicht genannt ist. Und für die anderen spielt es keine Rolle, wie er heisst – geschweige denn zum Nachnamen.

In Fragen, wie persönliche Details veröffentlicht werden sollten, und in der Beurteilung solcher Fälle, ist dem rechtlichen Grundsatz wieder vermehrt Rechnung zu tragen. Und nicht dem Umstand, wie sehr die Praxis diesen Grundsatz bereits verwässert hat. Womit wir bei der angekündigten Schlussbemerkung wären: Natürlich weiss der Blick, dass er mit Bild und Namensnennung das Persönlichkeitsrecht des Täters verletzt. Er nimmt das zugunsten der Auflage und Präsenz gern in Kauf. Und da frage ich mich ganz grundsätzlich, was ich von einem Medium halte, das sich dermassen um rechtliche Grundsätze foutiert. Das Journalismus auch unter Einhaltung gewisser Grundsätze sehr gut ausübbar ist, zeigen – gerade im genannten Fall – etliche andere Player.

Bild: Free-Photos/Pixabay (Ursprünglich sollte der Blog mit einem Foto einer Blick-Schlagzeile mit dem Konterfei von Thomas N. illustriert werden. Das allseits bekannte Bild des Täters, im ¾-Profil mit kurzem Halstuch. Aber eben: Es tut nichts zur Sache, wie der Täter aussieht. Darum gibt’s ein unspektakuläres Themenbild.)

Ethik, Journalismus, Medien, Presserat

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